Dazu habe ich allen Grund. Seit fast 18 Jahren pflege ich behinderte und alte Menschen. Nun hat es das Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland in seiner jüngsten Berliner Rede nicht lassen können, vor meinen Kolleginnen und Kollegen, vor mir einen verbalen Kotau zu machen.
Das ist so verlogen, dass ich protestieren muss.

Zuckerguss für neoliberale Verzichtspredigt
Köhler hat sicherlich mehr von der Welt gesehen als ich. Aber im Mikrokosmos des deutschen Gesundheits(un)wesens kenne ich mich aus wie in meiner Westentasche. Damit verdiene ich mein Geld. Es ist ein wichtiger Teil meines Leben. Deshalb darf ich fragen: Köhler, was hast du angerichtet? Was hast du meinen Kolleginnen und Kollegen, was hast du mir angetan?
Reicht es nicht, dass wir uns für wenig Lohn und einen warmen Händedruck abrackern, um Pflegebedürftige, so gut es geht, zu versorgen? So weit es ein von deinesgleichen teilprivatisiertes und budgetiertes Gesundheitssystem zulässt. Warum müssen wir auch noch als Zuckerguss für deine moralinsaure, neoliberale Verzichtspredigt herhalten?
Wir sollen minutengenaue Pflege am Fließband leisten: Aufstehn-Waschen-Windelwechsel-Zähneputzen-Kämmen-Anziehn-Frühstück-Windelwechsel-Mittagessen-(Kaffee-Kuchen??Leider-Leider-Keine-Zeit!Keine-Zeit!!)-Abendbrot-Windelwechsel-Betten-Lagern-Gute-Nacht-Bis-morgen-Früh-Aufstehn. Hauptsache, die Pflegebedürftigen sind satt und sauber? Ihr Köhlers, was habt ihr meinen Patienten angetan? Mit Menschenwürde hat das nichts zu tun.
Mein Bundespräsident ist das nicht
Wenn ich dann das Staatsoberhaupt reden höre von "Wert" und "Würde der Arbeit", weiß ich: "Mein" Bundespräsident ist das nicht, das ist nicht "meine" Regierung - und das ist auch nicht "meine" angeblich soziale Marktwirtschaft.
Hat der Mann noch alle Tassen im Schrank, dass er sich zu sagen wagt: "Warum haben wir die Pflege alter Menschen zu Hause oder die Versorgung kleiner Kinder so lange in die Schwarzarbeit gedrängt? " Was heißt denn hier "Wir"? Haben meine Kolleginnen und Kollegen das verschuldet? Oder die Pflegebedürftigen, deren Angehörige? Haben andere, denen es ähnlich schlecht geht, das angerichtet? Arbeitslose etwa oder die alleinerziehende Mutter, die ihre Kinder in die Suppenküche schicken muss? Nein, DU und deinesgleichen, IHR habt das getan.
"Was Hände bauten, können Hände stürzen"
Doch ich gebe zu, ein Teil der Schuld trifft auch "uns hier unten". Denn wir haben uns den neoliberalen, marktfanatischen, diesen ganzen kapitalistischen Unsinn viel zu lange gefallen lassen.
Köhler appelliert in seiner Rede: "Wir werden Ohnmacht empfinden, und Hilflosigkeit und Zorn. Aber es gab auch noch nie eine Zeit, in der unser Schicksal so sehr in unseren eigenen Händen lag wie heute." An dieser Stelle fällt mir eine Zeile aus Schillers "Wilhelm Tell" ein. Als die Zwingburg in Uri gebaut wird, sagt Tell: "Was Hände bauten, können Hände stürzen.“ Für die Herrschaft der Köhlers, für den Kapitalismus gilt das auch.