Dienstag, 24. März 2009

Ihr Köhlers, was habt ihr angerichtet?

Ich will nicht so streng über unseren Bundespräsidenten urteilen wie Georg Fülberth das heute auf freitag.de getan hat - sondern strenger.

Dazu habe ich allen Grund. Seit fast 18 Jahren pflege ich behinderte und alte Menschen. Nun hat es das Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland in seiner jüngsten Berliner Rede nicht lassen können, vor meinen Kolleginnen und Kollegen, vor mir einen verbalen Kotau zu machen.

Das ist so verlogen, dass ich protestieren muss.
Wenn ich mich recht entsinne, gehen die im Jahr 1992 beschlossenen Maastricht-Kriterien auch auf Köhlers Initiative zurück. Das sind jene Vereinbarungen europäischer Regierungen, mit denen die massiven Sozialkürzungen in der EU begründet wurden. Im Vertrag von Nizza 2001 und im Lissaboner Vertrag 2007 wurde die Politik des Sozialabbaus und der Deregulierung fortgeschrieben und soll Bestandteil einer EU-Verfassung werden. Betroffen davon sind auch wir: Altenpfleger und Krankenschwestern, denen Köhler angesichts engagierter und aufopferungsvoller Niedriglöhnerei Honig um den Mund zu schmieren gedenkt. Auf dass andere es uns gleichtun.

Zuckerguss für neoliberale Verzichtspredigt

Köhler hat sicherlich mehr von der Welt gesehen als ich. Aber im Mikrokosmos des deutschen Gesundheits(un)wesens kenne ich mich aus wie in meiner Westentasche. Damit verdiene ich mein Geld. Es ist ein wichtiger Teil meines Leben. Deshalb darf ich fragen: Köhler, was hast du angerichtet? Was hast du meinen Kolleginnen und Kollegen, was hast du mir angetan?

Reicht es nicht, dass wir uns für wenig Lohn und einen warmen Händedruck abrackern, um Pflegebedürftige, so gut es geht, zu versorgen? So weit es ein von deinesgleichen teilprivatisiertes und budgetiertes Gesundheitssystem zulässt. Warum müssen wir auch noch als Zuckerguss für deine moralinsaure, neoliberale Verzichtspredigt herhalten?


Wir sollen minutengenaue Pflege am Fließband leisten: Aufstehn-Waschen-Windelwechsel-Zähneputzen-Kämmen-Anziehn-Frühstück-Windelwechsel-Mittagessen-(Kaffee-Kuchen??Leider-Leider-Keine-Zeit!Keine-Zeit!!)-Abendbrot-Windelwechsel-Betten-Lagern-Gute-Nacht-Bis-morgen-Früh-Aufstehn. Hauptsache, die Pflegebedürftigen sind satt und sauber? Ihr Köhlers, was habt ihr meinen Patienten angetan? Mit Menschenwürde hat das nichts zu tun.

Mein Bundespräsident ist das nicht

Wenn ich dann das Staatsoberhaupt reden höre von "Wert" und "Würde der Arbeit", weiß ich: "Mein" Bundespräsident ist das nicht, das ist nicht "meine" Regierung - und das ist auch nicht "meine" angeblich soziale Marktwirtschaft.

Hat der Mann noch alle Tassen im Schrank, dass er sich zu sagen wagt: "Warum haben wir die Pflege alter Menschen zu Hause oder die Versorgung kleiner Kinder so lange in die Schwarzarbeit gedrängt? " Was heißt denn hier "Wir"? Haben meine Kolleginnen und Kollegen das verschuldet? Oder die Pflegebedürftigen, deren Angehörige? Haben andere, denen es ähnlich schlecht geht, das angerichtet? Arbeitslose etwa oder die alleinerziehende Mutter, die ihre Kinder in die Suppenküche schicken muss? Nein, DU und deinesgleichen, IHR habt das getan.

"Was Hände bauten, können Hände stürzen"

Doch ich gebe zu, ein Teil der Schuld trifft auch "uns hier unten". Denn wir haben uns den neoliberalen, marktfanatischen, diesen ganzen kapitalistischen Unsinn viel zu lange gefallen lassen.

Köhler appelliert in seiner Rede: "Wir werden Ohnmacht empfinden, und Hilflosigkeit und Zorn. Aber es gab auch noch nie eine Zeit, in der unser Schicksal so sehr in unseren eigenen Händen lag wie heute." An dieser Stelle fällt mir eine Zeile aus Schillers "Wilhelm Tell" ein. Als die Zwingburg in Uri gebaut wird, sagt Tell: "Was Hände bauten, können Hände stürzen.“ Für die Herrschaft der Köhlers, für den Kapitalismus gilt das auch.