Freitag, 11. September 2009
Was uns zu Menschen macht
Die Natur des Homo sapiens stellt kein Hindernis für eine sozialistische Gesellschaft dar. Gier, Gewalt oder Sexismus sind keineswegs Teil des genetischen Programms, wie manche Biologen behaupten. >> Artikel ausdrucken (PDF, 186 KB)
Während Legionen von Wirtschafts- und Politikwissenschaftlern sich die Köpfe über die Ursachen der Finanzkrise zerbrechen, präsentierten Wissenschaftler der Northwestern University in Illinois (USA) kürzlich eine einfache Erklärung: Zwei Gene, welche die Hirnbotenstoffe Dopamin und Serotonin regeln, seien schuld.
In einem Experiment hätten jene Versuchspersonen mit einer bestimmten Ausprägung eines Dopamin-Gens eine höhere Bereitschaft für riskante Geldanlagen gezeigt als Probanden mit einer bestimmten Ausprägung eines Serotonin-Transportergens, so die Forscher.
Zwei kleine Schönheitsfehler hat die Theorie der Wissenschaftler allerdings: Erstens waren die Versuchspersonen keine Banker und zweitens machen Finanzinstitute keine Gentests, bevor sie ihre Angestellten auf die Märkte loslassen. So dürfte es nicht verwundern, wenn sich unter den risikofreudigsten Zockern ebenso viele "Serotonin-Typen" wie"Dopamin-Junkies" finden.
Gewalt als biologisches Schicksal?
Ähnlich fragwürdige Stellungnahmen kommen auch aus Zweigen der Biologie, wenn es um die Erklärung von Rassismus, Sexismus und Krieg geht. Ihr Tenor: Gier, Gewalttätigkeit und männliche Dominanz seien durch natürliche Auslese im Laufe der Evolution entstanden und gehörten unabänderlich zur Ausstattung des Menschen. Deswegen habe es auch keinen Zweck, die Gesellschaft ändern zu wollen.
Die Vorstellung, dass Menschen quasi Sklaven ihrer Gene seien, hat den Soziobiologen Edward Osborne Wilson dazu veranlasst, ein recht knappes Urteil über Sozialismus zu fällen: "Wundervolle Theorie, aber die falsche Spezies".
Gene sind nicht "allmächtig"
Solche Ideen fußen einerseits auf einer falschen Einschätzung der Bedeutung und Funktionsweise von Genen und andererseits auf einer Überschätzung der biologischen Evolution für die Entwicklung des Menschen. Denn ein genetisches Programm, also die Gesamtheit der Gencodes, sorgt zunächst nur für die Produktion unterschiedlicher Proteine. Diese gehören zu den Grundbausteinen aller Zellen. Vermittelt über die Proteine enthält es auch Anweisungen für die Entwicklung zum Beispiel des menschlichen Gehirns, allerdings nur für dessen allgemeine Struktur. Es gibt sozusagen einen ganz groben Bauplan vor.
Damit allein lässt sich die Komplexität des Gehirns allerdings nicht realisieren, wie der Genetiker Ernst Peter Fischer betont: Die "100 Billionen [eine Zahl mit 14 Nullen!] Synapsen des menschlichen Gehirns können beim besten Willen und bei geschicktester Zerstückelung des Materials nicht von den Genen bestimmt und gelenkt werden. Es gibt einfach nicht genug Gene, um allein mit ihnen die Komplexität zu erklären, die wir im Zentralnervensystem – also im Gehirn – finden."
Die von Soziobiologen postulierte Allmacht der Gene existiert nicht. Eine neue Forschungsdisziplin, die Epigenetik, räumt derzeit mit der starren Vorstellung von Genen auf, die einen Organismus "kommandieren". Denn Gene können "an- und abgeschaltet" und in ihrer Ausprägung beeinflusst werden. In anderen Worten: Nicht Gene bestimmen den Organismus, sondern sie sind Teil desselben und "kooperieren" mit ihrer Umgebung, von der sie wiederum beeinflusst werden.
Diese Flexibilität des Organismus ist keine Überraschung bei einer Spezies, der es gelungen ist, nicht nur ganz unterschiedliche Habitate auf dem gesamten Globus zu besiedeln, sondern auch die Lebensräume selbst zu verändern.
Es kommt auf die Umstände an
Mit einer genetischen "Programmierung", wie sie von Soziobiologen unterstellt wird, kann auch nicht erklärt werden, dass der moderne Mensch (Homo sapiens) seit mindestens 100.000 Jahren existiert, sich Verhalten und Gesellschaften in dieser Zeit allerdings erheblich verändert haben.
Erst seit weniger als 10.000 Jahren leben Menschen in Klassengesellschaften, die sich durch Ausbeutung der Masse der Menschen, die Spaltung der Gesellschaft in Reich und Arm, Herrschende und Beherrschte, durch Krieg sowie durch systematische Frauenunterdrückung von den früheren egalitären Wildbeuter-Gesellschaften unterscheiden. Viele negative und destruktive Verhaltensweisen, die heute als Teil der "menschlichen Natur" gelten, sind in Wirklichkeit "neuere" Entwicklungen, die sich erst im Laufe mehrerer tausend Jahre nach der neolithischen Revolution, also mit der Sesshaftwerdung und Erfindung von Ackerbau und Viehzucht, durchgesetzt haben.
Auch erlerntes Verhalten, welches den Menschen auszeichnet, kann mit auf Biologie fixierten Theorien nicht erklärt werden. Denn menschliches Verhalten ist viel zu komplex und flexibel, um direkt und vollständig durch Gene gesteuert werden zu können. Menschen sind von Natur aus also weder gut noch schlecht, friedlich oder gewalttätig, dominant oder unterwürfig.
Es kommt auf die äußeren Umstände und bisher gemachte Erfahrungen an, wie Menschen sich verhalten. Da Menschen keine Automaten sind, die willenlose Opfer äußerer Umstände sind, sondern diese auch gestalten, gibt es weder ein starres Verhaltensschema, noch unveränderliche gesellschaftliche Zustände.
Menschen sind außerordentlich flexible Lebewesen
Was Soziobiologen nicht berücksichtigen wollen, ist die Tatsache, dass beim Menschen die biologische Evolution durch eine kulturelle abgelöst worden ist. Das heißt: Was den Homo sapiens auszeichnet, ist, dass die Individuen dieser Spezies darauf angewiesen sind, planvoll und bewusst in Zusammenarbeit mit anderen jene Mittel zu produzieren, die dem Überleben und der Bedürfnisbefriedigung dienen. Da der Mensch nicht als Einzelgänger lebt, sondern ein soziales Lebewesen ist, hat auch die Zusammenarbeit sozialen Charakter.
Indem Menschen ihre Bedürfnisse kooperativ durch bewusste und auf die Zukunft gerichtete Arbeit befriedigen, verändern sie ihre Umwelt und damit auch sich selbst. Und der Homo sapiens hat das in einem Maße getan, das weit über den gelegentlichen Gebrauch von Werkzeugen bei bestimmten Tierarten hinausgeht. Wenn etwas in seiner Natur liegt, dann seine außerordentliche Flexibilität des Denkens und Handelns.
In der biologischen Ausstattung des Menschen schlugen sich diese im Laufe der Evolution erworbenen besonderen Fähigkeiten deutlich sichtbar nieder: im aufrechten Gang, in der auf Feinmotorik ausgerichteten "Konstruktion" der Hände, dem leistungsfähigen Gehirn und der Sprache. Und diese sich entwickelnde, komplexer werdende biologische Ausstattung wiederum hat die Fähigkeiten des Menschen erweitert, sich selbst, seine Lebensweise und seine Umwelt zu verändern.
Eine andere Welt ist möglich
Mit dem Kapitalismus haben sich diese Fähigkeiten enorm gesteigert. Jedoch ist die Ausbeutung von Mensch und Natur Grundlage dieser Gesellschaft. Daher sind die Produktivkräfte immer auch Destruktivkräfte. In einer Gesellschaft, die auf hartem Konkurrenzkampf zwischen Unternehmen und Staaten sowie Produktion für Profit beruht, sind Ellenbogenmentalität, übersteigerter Eigennutz und Gewalt alltäglich.
Ebenso alltäglich ist aber auch, dass Menschen einander helfen, um über die Runden zu kommen und dass sie sich gegen Ausbeutung, Armut, Unterdrückung und Krieg wehren. Weil der Kapitalismus nicht in der Lage ist, selbst die elementaren Bedürfnisse der Masse der Menschen zu befriedigen, ist auch der Bedarf nach einer gerechten, friedlichen und ökologisch nachhaltig wirtschaftenden Gesellschaft groß. Beides kann zu einer vollständigen Umwälzung der Gesellschaft führen.
(Dieser Artikel ist erschienen in: marx21, Heft 12, Sept./Okt. 2009. Bild: Unter Verwendung zweier Free-Linkware-Grafiken von www.lumaxart.com)